Urstand oder Erbsünde? Fragen an ein Kunstwerk

Zu Liu Ruo wangs Figurengruppe „Original Sin“, gesehen bei der Nord Art im Sommer 2016

Büdelsdorf war die erste Station von Liu Ruo Wangs Arbeiten auf ihrer dreijährigen Tournee durch Europa und Amerika. Zwei seiner monumentalen Werke wurden auf der Nord Art gezeigt. Eines davon beschäftigt mich Monate später wieder beim Anblick meines Fotos.

An zentraler Stelle in der Carlshütte hatte Kurator Wolfgang Gramm die 2008-2010 entstandene Figurengruppe „Wolves Coming“ positioniert. Im Park stand „Original Sin“, eine Horde Riesenaffen, die unter dem deutschen Titel „Erbsünde“ zusammengefasst wurden. Dazu hieß es im Katalog: „Der gen Himmel schauende Affenmensch symbolisiert den Beginn antiker Zivilisation;(…)“ – das war die Übersetzung eines Kommentars (s.u.) vom chinesischen Künstler, den er vor Jahren selbst verfasst hatte.
Was mich zuerst stutzig werden ließ, war die recht erhebliche historische Lücke, die sich zwischen Titel und Beschreibung auftat. Kurz darauf purzelte die Frage heraus, warum ein asiatischer Künstler, dessen Werke laut Katalogtext „tief im chinesischen kulturellen und historischen Kontext verwurzelt“ seien, sich einen Begriff christlicher Theologie zum Werktitel wählt.
Der Gegenbegriff zur „Erbsünde“ (original sin) lautet „Urstand“ (original state). Er bezeichnet den paradiesischen Zustand, in dem das Urelternpaar vor seinem Sündenfall lebte. Die Vorstellung davon soll bereits in der Antike entstanden sein. Zum Urstand passt auch das „unschuldige Gesicht des Affenmenschen“ (Liu Ruo Wang) mit seinen „verblüfften Augen“. Alle Figuren stehen unbefangen nackt da. Sie scheinen irgendwen oder -was zu fixieren, das vom Himmel kommt. Ihre Haltung zeugt von innerer Ruhe, bereit, eine Botschaft zu empfangen, aber keine Spur von Sünde, Schmerz oder Angst. Also ein Übersetzungsfehler? Müsste das Werk „original state“ heißen? Im Gegensatz zum Wolfsrudel, für deren Guss Stahl verwendet wurde, bestehen die Affenkörper aus Kupfer, dem cyprium oder „Erz von der griechischen Insel Zypern“, auf der im Altertum Kupfer gewonnen wurde.
„Mit dieser Serie von Arbeiten drücke ich meinen Ärger aus über den abtrünnigen Teil im Ozean der Zivilisation, in dem wir leben, und rufe dazu auf, den schönen Dingen mehr Aufmerksamkeit zu schenken“, lautet die deutsche Übersetzung von Liu Ruo Wangs Kommentar zu seinem Werk. Dass er es durch die westliche Welt touren lässt, verwundert nicht, doch wie nehmen Chinesen seine Mahnung vor dem Sündenfall Europas auf?
Original Sin, 2011–2013, Kupfer, 36-teilig, je 350 x 180 x 120 cm

"Ape-man looking up into the sky symbolize the springing up of ancient civilization; today, high civilization bring advanced material culture, yet the nature we live on is being damaged unceasingly. The perplexed eyesight and innocent face of ape-man revealed the desire to correct all of these and to step towards bright future. The tile of Original Sin originated from my sense of social reality. I express my upset towards the deviated part in the ocean of civilization we are living in with this series of works and appeal for more attention to beautiful things".

By Liu Ruo wang, December 2012

Veröffentlicht von

panama

das; Abk. f. Panorama (griech.). Unter diesem Namen postet Daniela Mett vermischte Nachrichten aus der bewohnten Welt des Nordens bis hoch nach Tromsö. Die ausgebildete Magazinjournalistin berichtet frei und unabhängig. Sie hat sich in 35 Berufsjahren spezialisiert auf Reportagen und Interviews.

Schreibe einen Kommentar