Tony Cragg lädt Sean Scully nach Wuppertal

Abstraktion neu interpretiert – Sean Scully in Wuppertal

Der nachfolgende Bericht entstand im Auftrag der Kunstmarktzeitung „Kunst und Auktionen“. Veröffentlicht wurde er am 25. September 2020 im ZEITVERLAG Gerd Bucerius GmbH & Co KG, Hamburg.

Dublin und Liverpool teilen sich denselben Breitengrad. Verbunden sind sie durch die irische See sowie eine noch junge Städtepartnerschaft. In Irlands Hauptstadt kam 1945 Sean Scully zur Welt. Und in der Hafenstadt gegenüber wurde vier Jahre darauf Tony Cragg geboren. Beide wuchsen in England auf. Gut 70 Jahre später treffen sie im Skulpturenpark Waldfrieden aufeinander. Das Gelände liegt in Wuppertal, wo Tony Cragg seit Langem lebt, an einem grünen Hang zwischen den Stadtteilen Elberfeld und Barmen.

2006 erwarb der Turner-Preisträger und ehemalige Rektor der Kunstakademie Düsseldorf das verwaiste Grundstück samt Villa des einstigen Lackfabrikanten Kurt Herberts. Dort unterhält seine Stiftung eine stetig wachsende Skulpturensammlung. Derzeit befinden sich auf dem 14 Hektar umfassenden Parkgelände mehr als 50 monumentale Objekte. Rund die Hälfte stammt von Tony Cragg selbst. Andere sind von Bildhauerinnen und Bildhauern, mit denen er über den Kontext der Akademie verbunden war oder ist. Darunter fallen Kollegen wie Markus Lüpertz, Ulrich Rückriem, Hede Bühl, Bogomir Ecker, Wilhelm Mundt und Thomas Schütte. Ihre zwischen dem alten Baumbestand sensibel positionierten Werke ergeben ein sehenswertes Panorama international anerkannter, moderner und zeitgenössischer Skulptur.

Scullys Schaffen habe er seit Längerem verfolgt, so Cragg anlässlich der Eröffnung von INSIDEOUTSIDE in Waldfrieden. Er werte es als Ehre, dass dieser zugesagt habe, bei ihm auszustellen. Die internationale Kunstszene feiert Scully als Maler abstrahierter geometrischer Formen: „In England, we don’t like artists to be big personalities. But in America, in Germany and in China, I’m a rock star“, so vor Jahren seine Selbsteinschätzung. Nach Wuppertal entsandte er selbstironisch ein Exponat mit dem Titel „What Makes Us“. In Öl, Acryl und Ölpastell ausgeführt, versammelt es auf einer rund 15 Quadratmeter großen Aluminiumplatte typische Merkmale seiner Kunst: das schwarze „Fenster“, ein „Inset“ (wie er seine Einleger bezeichnet), vertikale Streifen und blockartig nebeneinander stehende Farbfelder in einer individuellen Mischung, die angeblich auf einen längeren Aufenthalt des Künstlers in Marokko Ende der Sechzigerjahre zurückzuführen ist.

Doch im Zentrum dieser Ausstellung stehen nicht Scullys Bilder, sondern Scullys „Stacks“. Das sind plastische Arbeiten, die durch Zusammensetzen beziehungsweise Aufschichten vorgefundener oder angefertigter Teile entstehen. Stapel wäre die am ehesten zutreffende Übersetzung dafür. Als Beispiel für eine frühe Arbeit zeigt die Ausstellung „Grid“. Sie besteht aus verschiedenfarbigen Filzstreifen, die Scully in ein Raster aus Aluminiumstäben wob. Insgesamt 68 Skulpturen listet der Künstler aktuell auf seiner Webseite. Die „Stacks“ bilden darin eine vergleichsweise junge Reihe. In Wuppertal zeigt Scully Variationen seiner hochästhetischen „Coin Stacks“ aus Bronze, dazu die „Sleeper Stacks“ aus ausrangierten Eisenbahnschwellen sowie – als Leihgabe aus dem Yorkshire Sculpture Park – den stählernen, gut 4,5 Meter hohen „Moor Shadow Stack“ von 2018.

Durch den Shutdown verzögerten sich Anlieferung und Errichtung. So vervollständigte sich die Ausstellung Stück für Stück über den Sommer. Erst Anfang September wurde die „Wall of Light Cubed“ fertiggestellt. Die spektakuläre blaugraue Mauer aus hiesigen Kalksteinbrocken hat Scully eigens für die Schau entworfen – als letzte von insgesamt zehn Skulpturen. Dazu kamen Konzeptskizzen sowie eine Auswahl von Schlüsselwerken zum Verständnis seiner künstlerischen Position. Die Werke verteilen sich über das Außengelände und auf drei Ausstellungshallen: Über die konkreten Orte soll sich der Hausherr bei einem gemeinsamen Rundgang mit seinem Gast im vergangenen Jahr verständigt haben.

Vor der mittleren Halle postierte jeder der beiden seinen „Botschafter“. Auf der einen Seite steht die neueste Version von Scullys „Tower with Hole“ (Abb.). In der rund drei Meter hohen und vom Rost roten Säule aus Cortenstahl befindet sich eine runde Aussparung. Sie verschafft uns Durchblick. Wahlweise schaut man von der einen Seite durch die Kunst ins Grüne oder von der anderen auf die Halle, hinter deren gläserner Außenwand ein Turm massiver „Zink Tanks“ zu erkennen ist. Die Idee, Räume zu öffnen, um verschiedene Perspektiven anzubieten, verfolgt Scully seit Jahrzehnten in seiner Malerei: „What I always do in my paintings is to marry things or values that are not natural bedfellows“. Hier sind es Naturerlebnis und Kunst. Insofern steht der „Tower with Hole“ als frische Metapher für Scullys gesamtes abstraktes Werk, seine Malerei wie die Plastik. Abstrakte Kunst sei für ihn, so erläuterte Scully mal in einem Künstlergespräch, „a reference to nature.“ Wobei „nature“ die menschliche Natur einschließt. Was man jedoch durch das Loch in Scullys Tower nicht sehen kann, ist Craggs Bronze „Willow“ von 2014. Diese organisch anmutende Skulptur markiert das andere Ende des Vorplatzes. Dort stehen sie nun einander gegenüber wie Dublin und Liverpool.

WUPPERTAL „Sean Scully – INSIDEOUTSIDE“, Skulpturenpark Waldfrieden, bis 3. Januar 2021, www.skulpturenpark-waldfrieden.de

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panama

das; Abk. f. Panorama (griech.). Unter diesem Namen postet Daniela Mett vermischte Nachrichten aus der bewohnten Welt des Nordens bis hoch nach Tromsö. Die ausgebildete Magazinjournalistin berichtet frei und unabhängig. Sie hat sich in 35 Berufsjahren spezialisiert auf Reportagen und Interviews.